MYRA

 Alley-nos_par_Den-al-ge

Alley-nos par Den-al-gê

Eînar, die Stimme der See im 351. Jahr der Großen Reise, erschien wie immer im Morgengrauen an Bord des ersten Schiffes der Flotte. „Wie sieht es aus?“ fragte sie Kâreyon, den Zweiten der See, der immer Wache über die Flotte hielt, wenn sie schlief. Mehr konnte er nicht tun. Zwar war auch er einer der Auserwählten Mann'An'Auns, ein Priester des Wassers und des Windes, aber wie alle Priester Mann'An'Auns hatte er nur Macht über den Wind. Nur sie, die Stimme, hatte Macht über das Meer selbst, denn ihr alleine folgten die Delphine, nur sie allein konnte die Stimme des Meeres und des Windes hören, und nur sie spürte den Weg, den ihnen die See wies, denn sie allein hörte den Ruf des Gottes in ihrem Herzen. Und so konnte nur sie allein der Flotte den sicheren Weg durch die tiefen Gewässer weisen. Man sagte, es gab eine Zeit, in der es anders gewesen sei, in der alle Priester Mann'An'Auns dem Gott so nahe gewesen seien, damals, vor dem Fall von Mannaris, aber das war Äonen her, und nur sie war übrig – die Stimme der See, die ewig Wiedergeborene, unzerstörbar wie das Meer selbst.

„Es ist alles ruhig, ehrwürdige Ylyana.“ Wie immer redete Kâreyon sie ehrerbietig mit dem Ehrentitel an, den jedeStimme der See seit dem Tag trug, an dem Mannaris fiel und an dem die damalige Stimme der See in den Flammen des brennenden Tempels Mann'An'Auns verging. Auch Thârn Farelsis, der Führer der Orherar, begrüßte sie ehrerbietig, bevor er die Priester der anderen Gottheiten begrüßte. Zwar gebührte keinem Prinzip Aenes weniger Ehre als einem anderen – wie könnte man leben ohne Or'Ayn, das Licht, ohne Gener'Ayn, das Land, ohne Thal'Ys, die Magie, oder ohne Poll'Athan, die Klugheit? –, aber hier, auf dem Meer, dessen Wirren und Stürmen sie seit Jahrhunderten ausgeliefert waren, war Mann'An'Aun das wichtigste der Prinzipien für ihr Überleben, und dem erwiesen alle ihren Tribut.

Während sie dem Kapitän ihre Anweisungen für die Weiterfahrt gab, war sie tief in Gedanken versunken. Sie stellte sich die verzweifelten Fragen, die sie sich jeden Morgen stellte. Wie lange schon? Wie lange war es her, daß sie von Analgar, der alten Heimat, vertrieben worden waren? Verjagt wegen ihres Glaubens und ihrer Weigerung, ein Prinzip Ænes über ein anderes zu stellen. Die Orherar hatten schon immer den Einklang der Götter verehrt und früh gelernt, daß Stärke aus der Balance der Prinzipien Ænes entsteht. Keines darf vergessen oder verleugnet werden, sonst gerät die Welt aus den Fugen und das ewige Nichts stürzt über Myra herein. Doch wie oft schon waren ketzerische Prediger aus fremden Völkern aufgetaucht, die den Krieg unter den Göttern predigten und ein Prinzip Ænes über alle anderen erheben wollten? Wie oft schon hatten sich die Orherar gegen diese Blasphemie gewehrt und die Fremden verlacht und verjagt? Und wie oft waren die Fremden, die angeblich so friedlich waren, mit Armeen und mächtigen Magiern wiedergekommen und hatten den Himmel über den Heimstätten der Orherar einstürzen lassen? Dreieinhalb Jahrhunderte waren vergangen, seitdem Analgar brannte, dreieinhalb Jahrhunderte der Flucht, der rastlosen Suche nach einer neuen Heimat. Und wie viele, unzählige Male zuvor hatten sie fliehen müssen, um ein neues Zuhause zu finden? Und wie lange noch? Wie lange würde es noch dauern, bis sie endlich in dem versprochenen Land ankommen würden?

In ihrem Grübeln hatte Eînar nicht so rege wie sonst den Horizont verfolgt, und so bemerkte sie erst jetzt seine Veränderung. Sie blinzelte. Konnte es sein, daß... Nein – sie zweifelte noch und wagte auch nichts zu sagen. Doch je näher sie kamen, desto gewisser wurde sie, daß sie sich doch nicht geirrt hatte. Um sie herum auf dem ersten Schiff und nach und nach auf den anderen Schiffen wurde es immer stiller, und schließlich, als bereits die Sonne unterging, schaukelten die Schiffe im ruhigen Wellengang an einer Küste, an der sich Wasser und Erde zärtlich zu umarmen schienen. Sanft erhob sich aus dem Meer eine sattgrüne Ebene aus fruchtbarem Boden, und in ihrem Begreifen wagten es Orherar kaum zu atmen.

Bis schließlich Eînar hauchte: „Alley-nos. Alley-nos par Den-al-gê.“ – Wir sind angekommen. Wir sind angekommen in der neuen Heimat. Und obwohl sie nur flüsterte, trug doch der Wind die Worte der Stimme der See bis in den letzten Winkel des letzten Bootes.

(Denalgê, ca. 1600 v.P.)