MYRA

 Der_Reigen

Der Reigen

Die Paare stehen da. In zwei Reihen aufgereiht wie an einer Perlenschnur, Herren und Damen einander gegenüber. Ihre Gesichter ausdruckslos. Die Herren verneigen sich vor den Damen. Absolute Stille im Saal. Dann die ersten Klänge der Laute. Der Tanz beginnt.

Er richtet sich auf, reicht ihr die Hand und blickt auf. Sie ist größer als er, aber warum stört es ihn nicht? Warum sollte es ihn denn stören?

Ihr Blick fängt den seinen. Ihre Augen. In ihnen liegen die Ruhe des Waldes und gleichzeitig der Ruf des Frühlings. Grün sind sie. Grün wie die ruhige See. Er hat niemals ein ruhiges Meer gesehen, aber wenn das Meer ruhig wäre, dann hätte es diese Farbe. Und auf ihrer hellen Haut funkeln diese grünen Augen wie ein wertvolles Diadem.

Ihre Hand legt sich auf die seine. Zart wie ein Windhauch, und doch sicher und fest wie die eines Mannes. Jedes Mal aufs Neue ungewohnt. Anders. Kein Baum, den der erste Windstoß umkippt.

Wild wie der Wind wirbelt sie von ihm fort, und für ein paar Takte wiegt sich eine Andere in seinen Armen. Dann fliegt sie wieder in seine Arme. Ihr Haar tanzt wie sie selbst, und die Fackeln lassen es erflammen.

Wieder trennt sie der Tanz, wieder fliegt sie in seine Arme. Sie ist so anders. So fremd. Selbst ihre Kleider... So rauh. So wild. So... Sie hat dem Hof die Beine gezeigt, und sie tut es immer wieder. Sie reitet wie ein Mann. Und keinen hat es gestört. Nicht einmal ihn, dessen Mutter im ganzen Leben kein Kleid ohne hochgeschlossenen Kragen getragen hat. Aber sie – bei ihr ist es anders.

Erneut liegt ihre Hand sicher in der seinen, als sie unter dem Torgang aus Händen, den die anderen Tanzenden bilden, hindurchtanzen. Vielleicht liegt es daran, daß nichts ihr ihre Würde nehmen kann. Sie ist wie eine Alizae, die schon immer da war und die über die Dummheit der Menschen nur lachen kann. Oder besser: ein Adler. Majestätisch und edel.

Abermals trägt der Tanz sie fort, dann liegt sie wieder in seinen Armen. Wie sie sich an gepaßt hat an die höfische Etikette. Perfekt. Und dann, immer wieder aufs Neue, bricht sie aus. Wie ein Adler, der sich ergnadet hat, ein wenig unter uns zu weilen. Immer wieder breitet er seine Schwingen aus, bäumt sich auf, als ob er sagen wollte: „Schaut her! Ich bin nicht hier, weil ich es sein muß. Ich bin hier, weil ich es sein will. Und ich werde wieder gehen, wenn ich es will!“

Wer würde es wagen, einen Adler in einen Käfig zu sperren? Wer könnte ihn gegen seinen Willen halten, ohne seine Flügel zu brechen? Und ihm damit seine Schönheit nehmen?

Wieder wirbelt sie fort von ihm, wird weiter getragen durch die Wogen der Tanzenden, landet wieder vor ihm. Ein letztes Mal kreist sie um ihn. Erneut trifft sein Blick ihre Augen. Ihre grünen Augen. Er hält den Atem an. Unendlich lang und unfaßbar kurz sind die letzten Takte der Musik. Dann... knickst sie vor ihm. Er verneigt sich vor ihr. Der Tanz endet.

(Festung Allennos, Schewat 418 n.P.)